Das kleine Wörtchen "muss"

... und was es mit transformativer Arbeit zu tun hat.

Transformationsbegleitung (1) 

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Das Wörtchen „muss“ ist in unseren täglichen Dialogen allgegenwärtig. „Ich muss noch erst ...“. Laut Wörterbuch hat etwas mit Zwang, Verpflichtung und Notwendigkeit zu tun. Wenn wir etwas müssen, dann sind wir eng und begrenzt – und scheinen keine eigene Wahlfreiheit zu haben.

Transformation hat zum Ziel, neue stimmige Möglichkeiten in den Blick und in die Hand zu nehmen. Das Wörtchen  „muss“ kann manchmal genau auf das entscheidende Hindernis im Transformationsprozess weisen.

Neulich in einer Gruppensupervision von Leitungskräften im Pflegebereich sagte eine Führungskraft: „… und da muss ich immer einspringen – meiner eigentliche Leitungsaufgabe kann ich gar nicht nachkommen.“

Wenn ich die faktische Situation im Pflegebereich betrachte, kann ich das nachvollziehen. Es fehlen die Kräfte, spontan gibt es Ausfälle, es ist schlecht jemand anderes zu erreichen – also „muss“ eine Führungskraft selbst einspringen – und kann den eigenen Leitungsaufgaben nicht nachkommen. Und vielleicht „muss“ sie dann noch die nötigen Schreibarbeiten mit nach Hause nehmen, obgleich die junge Familie dabei zu kurz kommt und die Führungskraft nicht mehr in den Schlaf.

Die Frage, die ich mir als Beraterin dann stelle: Was ist es, was dazu treibt, in die Lücke zu springen?

Wir zitieren die äußeren Umstände herbei – und selbstverständlich sind sie es, die uns in diese paradoxe Situation bringen. Sie sind real – und sie bringen das System an die Grenze. Das ist fraglos. Dennoch: Könnte es nicht auch andere Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Situation geben? Könnte es gar andere Handlungsmöglichkeiten geben – oder ist das „Einspringen“ wirklich zwingend?  

Systemisch ist klar, was die Führungskraft mit dem System macht: Sie stabilisiert es. Sie hält es am Funktionieren. Ich spitze es jetzt mal zu: Sie macht, dass sich weder andere Mitarbeitende ändern müssen, Abläufe trotz weniger Fachkräfte gleichbleiben können, das Umfeld glauben kann, dass es so weiter funktioniert.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob das auf Dauer wirklich hilfreich ist. Für einen Übergang kann ich als Führungskraft einspringen. Das ist sozial, loyal und kollegial zu unterstützen – nicht aber, wenn die Situation auf Dauer gestellt ist und die Lage sich eher zuspitzt statt wieder entspannt.

Dies ist nur EIN Beispiel. Ich könnte hier genauso gut Beispiele aus der Jugendhilfe und auch jenseits des sozialen Bereiches finden.

Ich frage nochmal: Was ist es eigentlich, warum wir meinen zu „müssen“?

In Institutionen ist es oft die durch Narrative gestärkte Kultur, die uns vermittelt, was geht und was nicht geht. Wir handeln, wie in einem Panoptikon entsprechend der vermeintlichen Erwartungen, ohne dass es dafür eine ständige Überwachung geben müsste. Wahrscheinlich passt von vorneherein die mentale Disposition des Beschäftigten mit der den Erwartungen an die Position in der Organisation so zusammen, dass die unausgesprochenen Normen immer weiter gestärkt werden. Je größer die Homogenität innerhalb des Systems, umso klarer und haltgebender die Normen einerseits und umso starrer und einengender andererseits.

Innerhalb dieser Normen gibt es ein klares „Muss“, welches Komplexität reduziert und erfahrungsgemäß für das Funktionieren des Systems garantiert hat. Doch scheint diese Norm an eine Grenze zu geraten: Es braucht eine Transformation, also eine Erweiterung des Denkens.

Schauen wir nun mal auf die mentale Disposition des Einzelnen. Was treibt mich zu meinem ganz persönlichen „Muss“?

Neben Prägungen sind es oft Loyalitäten, Delegationen und zur Wiedergutmachung treibende Schuldgefühle, die uns stark an bestimmte Verhaltensweisen binden.

Seit meiner Studienzeit interessieren mich die „unsichtbaren Bindungen“ in familiären Systemen (Boszormenyi-Nagy) und „Delegation und Familie“ (Stierlin). Diese Grundlagen kommen mir heute bei der Transformationsarbeit sehr zu Gute und die Erkenntnisse lassen sich zu einem Teil auch gut auf Organisationen übertragen – zumal hierzulande viele Unternehmen Familienunternehmen sind.

Es geht dabei darum, inwiefern meine Ursprungsfamilie mir einen Auftrag mit in das Leben gegeben hat. Dabei sind es in der Regel nicht die direkten und offensichtlichen Aufträge wie „Du musst studieren und Arzt werden“, sondern eher um die subtileren gefühlten Verpflichtungen. Es geht um Themen wie:

  • Ungelebte und unterdrückte negative Strebungen, die man stellvertretend für die Eltern lebt (es war etwas im Geheimen bei den Eltern, was man selbst offensichtlich lebt)
  • Ungerechtigkeiten zwischen Eltern oder in der Familiengeschichte auszugleichen, in dem man durch seinen Lebensstil die Solidarität mit dem vermeintlich ungerecht behandelten Elternteil vorlebt; besondere Loyalität mit einem Elternteil
  • Insgesamt Schuld- und Dankverpflichtungen / Wiedergutmachungen in der Familie; wenn das Gesetz des Ausgleichs von Geben und Nehmen in der Ursprungsfamilie oder von einem selbst missachtet wurde
  • So tun, als ob die Welt in Ordnung wäre, um Konflikte und Ambivalenzen vor einem vermeintlich schwachen Elternteil fernzuhalten: also meinen, eine „Fassade“ aufrechterhalten zu müssen.
  • Unerfüllte Strebungen und Hoffnungen eines Elternteils, die man meint, erfüllen zu müssen. Dies findet man oft in starken bis ungesunden Aufstiegsambitionen.
  • Ich meine als Kind für verleugnete schlechte Taten eines Elternteils büßen zu müssen – es darf mir also gar nicht gut gehen, ich darf nicht erfolgreich sein.

Loyalitäten sind im ersten selbstverständlich sinnvoll – werden dadurch doch Zugehörigkeiten und Bindungen gefestigt. Loyalitäten können uns jedoch auch „unsinniger Weise“ binden – wenn wir uns z.B. gar nicht mehr im alten System befinden. Die Aufträge nehmen wir dann mit in neue Beziehungen. Während für jeden selbst klar ist, wie man sich verhalten „muss“, finden sich im neuen Umfeld  - beim Partner, im Team etc. – ganz andere Selbstverständlichkeiten. Im optimalen Fall führen die daraus entstehenden Irritation und Konflikte zu mehr Selbstbewusstheit und damit zu einer höheren Handlungsfreiheit.

In meiner transformativen Arbeit halte ich es für wesentlich, solchen unsichtbaren Bindungen auf die Spur zu kommen. Noch letztens begleitete ich ein Team, in dem deutlich wurde, dass bestimmte Verhaltensweise und neue Strukturen unmöglich waren, weil sie dem Ethos der Gründerfigur, die früh (also quasi ungerecht) durch einen Unfall zu Tode kam, widersprachen. Das Team meinte, noch als verlängerter Arm für den Gründervater etwas verwirklichen zu müssen – was jedoch gleichzeitig das Überleben der Organisation gefährdete. Und nehmen wir das Beispiel aus der Pflege vom Anfang des Artikels, so gibt es hier habituelle, historische, traditionelle Gründe für die Kultur einerseits und die persönliche Disposition des Individuums, welches sich die Organisation ausgesucht hat andererseits. Die Frage: „Wem würden wir unähnlicher, wenn wir uns anders verhalten würden, als wir es tun?“ kann also nicht nur bei Individuen, sondern auch in Organisationen zur Bewusstheit über das vermeintlich „Muss“ führen – und damit besprechbar, verarbeitbar und neu entscheidbar werden.

Erfahren Sie mehr über meine transformative Arbeit unter

www.transformation-companion.de

und für Berater*innen die Fortbildung, die genau an die Transformationspunkte geht

https://www.14dd5266c70789bdc806364df4586335-gdprlock/watch?v=B2IouKq5fxA